Frierendes Mädchen
1917
In den Jahren 1914 und 1915 erlebte Barlach den Krieg aus der Perspektive des Anteil nehmenden, aber nicht unmittelbar betroffenen Beobachters, der durch Augenzeugenberichte über die Vorgänge an der Front unterrichtet war. Erst zu Beginn des Jahres 1916, als er eine elfwöchige Reservistenausbildung in Sonderburg absolvieren und dabei selbst schwere körperliche Strapazen ertragen musste, wurde die physische und psychische Zerrüttung, die das Erleben des Krieges bei vielen Soldaten und ihren Angehörigen bewirkte, zu einer authentischen Erfahrung, die den Künstler das inständige »Seufzen nach Frieden« nun intensiv mitempfinden ließ: »Stillhalten und das Schwere stumm verarbeiten, das ist wohl der große Prozeß...Sprechen tun die Augen, der Mund ist geschlossen. Widerspruch beim Empörendsten ist unmöglich« (Briefe I, S. 475).
Ihre künstlerische Verarbeitung findet diese Erfahrung in der Darstellung des Frierenden Mädchens. Aufrecht stehend, scheinbar gefasst verhaart die junge Frau in einer Haltung, die körperliches und seelisches Leid artikuliert. Wie hinter einem Schild versteckt sie ihren Körper unter einem langen Tuch, dessen Ende vor der Brust in glatten Bahnen schräg übereinander fallen. Die verdeckten, zur Höhe des Kinns erhobenen Fäuste verraten den Impuls, auch das Gesicht hinter der schützenden Hülle zu verbergen und erinnern darin an die anrührende Gebärde eines Kindes, das mit dem aufsteigenden Gefühl des Weinens kämpft. Die in ihrer ebenmäßigen Glätte zart und verletzlich wirkenden Züge des jungen Gesichts lassen keine Gefühlsregung erkennen.
Doch in der leichten Asymmetrie der zum Gesicht gehobenen, verhüllten Hände wird die innere Bewegung sichtbar. Die weit geöffneten, ins Leere starrenden Augen deuten auf etwas Grauenhaftes hin, das das innere Erleben der jungen Frau gefangen nimmt. Es lässt sie zutiefst erschrecken und verstummen, macht sie hilflos und fügt ihrer Seele eine Verwundung zu, die vielleicht nie mehr geheilt werden kann.
Übrigens
Nach einem Gutachten aus dem Jahre 1976 vom Institut für Holzbiologie und Holzschutz, Bundesforschungsanstalt für Holz- und Forstwirtschaft, Hamburg (Prof. Dr. J. Bauch), handelt es sich bei dem verwendeten Holz um alte Bauholzteile:
»Nach dem Format und der Verfärbung kann es sich um Träger oder Dachhölzer alter, wahrscheinlich landwirtschaftlicher Gebäude handeln«.
Werkdaten
- Titel
- Frierendes Mädchen
- Datierung
- 1917
- Reihe, Serie
- –
- Material, Technik
- Holz (Eiche) mit getöntem Überzug
- MAßE
- 76,6 x 21,3 x 21,8 cm
- Signatur
- Auf der Plinthe links: 1917/ E Barlach
- Bezeichnung
- Hinten an der Plinthe: ZV / 2803; auf der Unterseite diverse Fragmente von Klebeetiketten
- Sammlungsbereich
- Skulptur und Plastik
- Inventar-Nr.
- P 1939/002
- Werkverzeichnis
- Laur II 0254
- Bemerkung
- –
- Auflage
- –
- Erwerbung
- Als Stiftung von Hermann F. Reemtsma, Hamburg, 1962
- Provenienz
- 1917 Paul Cassirer, Berlin
- 1920 Galerie Ernst Arnold, Dresden
- 1920 Albertinum Skulpturensammlung, Dresden
- 1937 als »entartet« beschlagnahmt durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Einzug zugunsten des Deutschen Reiches
- 1938 Depot Schloss Schönhausen, Berlin, Lagerung »international verwertbarer« Kunstwerke, EK-Nr. 15735
- 1939 Bernhard A. Böhmer, Güstrow
- 1939 Hermann F. Reemtsma, Hamburg
- Creditline
- © Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg; Foto: Andreas Weiss