Im August 1906 bricht Ernst Barlach mit seinem Bruder Nikolaus ins südliche Russland auf, also in die heutige Ukraine, um den gemeinsamen Bruder Hans zu besuchen.
Hans arbeitet als Heizungsingenieur in der Stadt Charkow. Barlach ist heilfroh, Berlin hinter sich zu lassen, er durchlebt gerade eine schwere persönliche und künstlerische Krise. Fast zwei Monate wird er bleiben.
Die Russlandreise wird zum Wendepunkt in Ernst Barlachs Schaffen.
Die Brüder wohnen in Hans‘ Sommerhaus unweit von Charkow. Per Eisenbahn und mit dem Pferdewagen unternehmen sie Reisen in die Umgebung.
In der Stadt Charkow besucht Barlach auch das Theater, aber was ihn nachhaltig berührt, sind die Menschen, denen er auf der Straße begegnet. Bauern, Bettler, Geistliche, Arbeiter, Müßiggänger und Betrunkene. Sie geben ihm entscheidende künstlerische Impulse.
Barlach beobachtet und zeichnet. Kohle, Bleistift und Feder hat er immer dabei. Er studiert Gesichter, Typen und Charaktere. So wie andere Künstler zu Beginn des 20sten Jahrhunderts, die sich auf Fernreisen vom Fremden und Exotischen Inspiration erhoffen, ist Barlach auf der Suche nach Echtem und Unverfälschtem. Im Individuellen sucht er das Beispielhafte.
In den russischen Menschen, vor allem den Bettlern, findet er Sinnbilder des Menschlichen. Russland gibt Barlach jene Gestalten, die, wie er schreibt »das Widrige, das Komische und das Göttliche in sich vereinen.« (Brief, zit. nach Thieme S. 76).
In einer Fülle von Skizzen hält er die Steppendörfer und das Dorfleben fest, Bauern und Bauernpaare, Er entdeckt die prähistorischen Grabhügel, die Kurgane und er ist überwältigt von der Steppenlandschaft.
Wie sie sich in weichen Wellen bis zum fernen Horizont erstreckt. Wie sie zusammenwirkt mit dem weiten Himmel, Licht, Sonne und Wolken – all das berührt Barlach tief.
Die Dörfer, die Steppe empfindet er als Seelenlandschaft. Hier findet er, wie er sagt »das Eigene im Fremden«.
»Ich dachte: Sieh, das ist außen wie innen, das ist alles ohnemaßen wirklich…. Nichts Fremdes oder Bestürzendes - alles war mir wie lang vertraute Kunde , aufgeschlossen, preisgegeben, widerstandslos meinem Gefallen und Belieben erbötig«.
In Barlachs Skizzen kündigt sich jene Vereinfachung der Linie und der Form an, die sein späteres bildhauerisches Werk charakterisieren wird. So hüllt er Frauen in lange Schultertücher und reduziert ihre Gestalt radikal auf elementare Grundformen.
Die menschlichen Gestalten vor dem Hintergrund der weiten Ebenen lehren ihn ein neues, plastisches Sehen, wie er sich später erinnern wird.
»Die Tatsache besteht, dass die Wirklichkeit für mein Auge plastische Wirklichkeit war und dass ich mein bisher unbefriedigtes Bedürfnis mit mir heranführte, Bereitschaft und Fähigkeit zum Sehen nicht der anderen, sondern der plastischen Werte«.
In der südrussischen Steppe sieht Barlach frühmittelalterliche Sandsteinskulpturen. Es sind massige, blockhafte Gestalten, die mal Männer, mal Frauen darstellen. Diese sogenannten Kamennije Babi, Stein-Babas, die Barlach Balabanows nennt, dienten einst im Ahnenkult der Verehrung der Verstorbenen.
Barlach ist tief beeindruckt von ihrer Urtümlichkeit und Würde. Sie hätten, so schreibt er anerkennend, mehr Bildhauertemperament in sich als die Figuren vieler Kaiser-Wilhelm-Denkmäler.
»Angesehen oder übersehen – sie wissen, wer sie sind, umschlingen Einer wie alle ihre Bäuche und gefallen sich wie Einsiedler in der Geberde eines vollen Selbstgenügens«.
Zurück in Berlin, verfügt der Künstler über einen unerschöpflichen Bildervorrat. In den kommenden Jahren arbeitet er Skizzen zu großen Zeichnungen aus, oder setzt sie plastisch in Terrakotten, Porzellan- und vereinzelt auch Bronzefiguren um.
Als Barlach nach seiner Reise seine ersten beiden Keramiken formt, ist er noch unsicher.
»Als ich zurückkehrte und die ersten beiden Bettler, diese Bettler, die mir Symbole für die menschliche Situation ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde waren… anlegte, drang der alte Zweifel zu: Wird das nun auch endlich wirklich Plastik oder wieder Modellierarbeit?«
1907 stellt Barlach den Blinden Bettler und die Russische Bettlerin mit Schale im Frühjahrssalon der Künstlervereinigung Berliner Sezession aus.
»Es gab ein Aufatmen in meinem Gemüt und einen hübschen kleinen Tumult in meinem Kopfe, als ich mit zwei solchen Püppchen, wie die feiste Bettlerin und der betend lamentierende blinde Bettler waren, den Beifall eines halbes Dutzend Männer fand, deren Urteil ich nur zu gerne als unzweifelhaft verlässlich ansah«.
Unter den Männern ist auch der wichtige Berliner Galerist und Verleger Paul Cassirer. Er wird den Bildhauer wenig später unter Vertrag nehmen und viele Jahre lang Barlachs Lebensunterhalt sichern. Der Grundstein für den Erfolg ist gelegt.
Auf einem in Russland gezeichneten Blatt sieht man eine kauernde Gestalt. In ihr entdecken wir Barlachs berühmte Bettlerin, eine Keramikfigur von 1907, von der Barlach später eine etwas größere Version in Bronze gießen lässt.
Ein Jahr nach seiner Russlandreise findet der Bildhauer hier zu einer neuen Sprache, die ihn zu einem Wegbereiter einer Stilrichtung macht, die man Jahre später Expressionismus nennen wird.
So fasst ein großes Tuch Kopf und Körper der Frau zu einem einheitlichen Umriss, einer geschlossenen Form zusammen. Der stark gedehnte linke Arm und die großen Hände sind ins Expressive gesteigert, vermitteln den Eindruck einer zwar demütig geduckten, aber in ihrer Not entschlossenen Frau. Die Falten verstärken das Eindringliche von Haltung und Gebärde. Die Form wird zum Ausdrucksträger seelischer Vorgänge.
Die Russlandreise, so erinnert sich Barlach später, habe ihm die Schrankenlosigkeit der eigenen Ausdrucksfreiheit vor Augen geführt, von der »Gebärde der Frömmigkeit« bis zur »Ungebärde der Wut«. In Russland habe er »Urbilder des Menschlichen« gefunden.
Barlachs Themen kreisen fortan immer wieder um die elementaren Bedingungen der Existenz des Menschen zwischen Himmel und Erde.
Aus Barlachs Briefen
Barlach schreibt an seinen Freund Reinhard Piper
»Übrigens war ich jetzt einige Monate im südlichen Rußland, habe da unendliche Anregungen, sagen wir gleich Offenbarungen empfangen. Hoffentlich gelingt es mir, in Zeichnungen u. Plastik Einiges zu gestalten.
Nur gehört zum Arbeiten immer Geld, mag man sich stellen wie man auch will. Und des Geldes wegen muß man sich absichtlich verkrüppeln!! Seien Sie recht glücklich in Bayreuth!«
Es grüßt Sie herzlich
Ihr EBarlach
Aus einem Brief Barlachs an Reinhard Piper, Dezember 1906.
Reinhard Piper war Barlachs langjähriger Freund und schickte ihm regelmäßig Bücherpakete mit Titeln aus dem jeweils aktuellen Programm des Piper Verlags, das sowohl künstlerische Manifeste und Biografien als auch literarische Werke umfasste. (Ernst Barlach, Die Briefe, Bd. 1, S. 326)